Warum ist Mathematik so schwierig?

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„Warum ist Mathematik so schwierig?“ Diese Frage wurde mir nicht nur einmal gestellt und trotz meines Lehramtsstudiums mit dem Fach Mathematik hatte ich keine spontane, gute Antwort darauf parat. In der Fachdidaktik lernt man die Schwierigkeit(en) einzelner Aufgaben ungefähr einzuschätzen; jedenfalls redet man viel darüber. Aber die Mathematik scheint als Ganzes Merkmale zu haben, die sie schwieriger machen als andere Fächer, die in der Schule gelernt werden sollen.

In diesem Artikel möchte ich einen psychologischen Blick auf diese Frage werfen, indem ich auf eine Theorie von zwei Denkmodi oder Systemen zurückgreife, die Daniel Kahneman in seinem empfehlenswerten Buch „Schnelles Denken, langsames Denken“ darstellt. Das ist natürlich nur eine von vielen möglichen Perspektiven, nur ein kleiner Beitrag und keine abschließende Antwort. Ich hoffe aber, dass ich hiermit ein paar Einsichten in diese schwierige Frage geben kann.

Dieser Artikel beginnt mit drei Abschnitten über die Funktionsweise der zwei Denksysteme, die Kahneman in „Schnelles Denken, langsames Denken“ beschreibt (genaue Quellenangabe unten) und die ich relativ kurz aus meiner Sicht zusammenfasse. Danach schließe ich mit eigenen Gedanken darüber an, was sich aus dem Theorierahmen von Kahneman für die spezielle Schwierigkeit der Mathematik vermuten lässt.

Zwei Denksysteme

Lösen Sie die folgende Aufgabe im Kopf:

\(13\cdot 26\).

Das Lösen dieser Aufgabe erfordert von Ihnen mehrere Schritte: Sie müssen die Rechnung in einfachere Rechnungen wie 1026+326 zerlegen und sich die Zwischenergebnisse merken, dann müssen Sie die Zwischenergebnisse wieder zu einem Gesamtergebnis zusammenfügen. Das Ganze ist nicht leicht durchzuführen. Sie müssen Ihre Aufmerksamkeit auf die Aufgabe fokussieren und fokussiert halten, um keinen Zwischenschritt zu vergessen. Jeder der einzelnen Rechenschritte geht nur langsam voran, kostet geistige Anstrengung und jeder der Schritte läuft in Ihrem Bewusstsein ab, für das insgesamt nur begrenzte Ressourcen an Aufmerksamkeit und Anstrengung zur Verfügung stehen. Letzteres ist bemerkenswert: Die Lösung der Aufgabe erforderte offenbar unbedingt das bewusste Durchdenken des Problems. Nur deshalb können wir von jedem der Rechenschritte, die zur Lösung nötig waren, berichten und so erzählen, wie wir zu dem Ergebnis am Ende des Denkprozesses gekommen sind. Das ist ein sehr seltenes Phänomen.

Gleichzeitig ist es Ihnen in meiner Beschreibung der Anforderungen der Multiplikationsaufgabe gelungen, die Sätze mühelos und intuitiv zu verstehen. Das Verstehen der Sätze verlief unbewusst und sehr schnell. Auch ohne genaue Prüfung wissen Sie, dass der Satzbau bisher stets korrekt war, denn sonst Sie es sofort bemerkt hätten. Bei der Schreibweise der einzelnen Wörter sind Sie sich vielleicht nicht ganz sicher. Es macht Ihnen nur wenig aus, wnen in Wrtören eniznele Bachustebn vetarschut snid – Sie können trotzdem den Sinn verstehen, solange nur der erste und der letzte Buchstabe an der richtigen Position sind. Und trotzdem macht es für Sie einen echten Unterschied, ob jemand von „Ferien“ oder von „feiern“ schreibt. Ebenso können Sie gut zwischen gleich klingenden Wörtern, wie „Seite“ und „Saite“ unterscheiden. Bei dieser erstaunlichen Leistung wirkt es ziemlich unverständlich, dass Ihnen die Aufgabe „\(13 \cdot 26\)“ solche Mühe bereitet hat. Doch die Aufgabe, einen Satz zu verstehen, und die Aufgabe, eine Multiplikation durchzuführen werden offenbar völlig unterschiedlich verarbeitet. So können Sie hier nicht von den Schritten berichten, in denen Sie verifiziert haben, dass die Sätze die richtige Satzstruktur hatten – sie wussten es einfach. Genauso wie Sie nicht von den einzelnen Schritten berichten können, in denen das Bild auf Ihrer Netzhaut zu einem dreidimensionalen Eindruck von Ihrer Umgebung wird.

Daniel Kahneman nutzt in seinem Buch „Schnelles Denken, langsames Denken“ für die Beschreibung dieser unterschiedlichen Verarbeitung von Informationen eine Metapher von zwei Denksystemen, die zu unterschiedlichen Operationen in der Lage sind. In dem dadurch aufgeworfenen Rahmen führt er die Forschungen zum menschlichen Urteilen und Entscheiden, für die er den Nobelpreis bekam, auf die Wechselwirkung der beiden Systeme zurück. Er beschreibt diese Systeme als handelnde Akteure, weil es dem intuitiven Denken entgegen kommt und die damit verbundene Information daher leichter zu verarbeiten und zu behalten ist. Dabei warnt er ausdrücklich davor, diese Metapher falsch zu verstehen. Die Systeme sind Fiktion und dienen lediglich dazu, einige Eigenschaften menschlichen Denkens zusammenzufassen, die bestimmte Gemeinsamkeiten aufweisen. Jede aktive Formulierung über die Handlungsweise eines der Systeme ließe sich in eine präzise, passive Formulierung umwandeln, die jedoch schwieriger zu verarbeiten und zu behalten wäre. Im Folgenden werde ich genauso wie Kahneman von den Systemen als Akteuren schreiben.

System 1 arbeitet größtenteils unbewusst, automatisch, sehr schnell und fast mühelos. Nur das Ergebnis dieser Denkprozesse wird Ihnen bewusst – System 1 macht Vorschläge zur Beurteilung einer Situation, es erzeugt Ihre Eindrücke und Intuitionen, die System 2 annehmen kann, sodass sie direkt zu Ihren Überzeugungen werden, oder die es überprüfen und bewusst durchdenken kann. Da die Operationen von System 1 keine oder nur wenig Aufmerksamkeit brauchen, können manche von ihnen gleichzeitig ausgeführt werden. Zu diesen Operationen gehört das Verständnis von (einfachen) Sätzen, das Tippen auf einer Tastatur (wenn Sie darin Übung haben), das Autofahren auf einer leeren Landstraße oder auch die Berechnung von \(2\cdot 2\).

Die Operationen, die ich gerade aufgezählt habe, haben gemeinsam, dass wir sie früher einmal gelernt haben und beim Lernen gingen diese Operationen noch sehr langsam und nur unter Beteiligung des Bewusstseins vonstatten – was uns zu System 2 führt. Dieses arbeitet nämlich gerade langsam und unter Beteiligung des Bewusstseins, was eine (mehr oder weniger starke) Fokussierung der Aufmerksamkeit und geistige Anstrengung erfordert. Zu seinen Fähigkeiten gehört, System 1 umprogrammieren zu können. Das tun Sie zum Beispiel, wenn ich Sie auffordere, alle Kommata in diesem Artikel zu zählen, und das haben Sie getan, als Sie lernten, einfache Sätze zu verstehen oder in reizarmen Umgebungen routiniert Auto zu fahren. Das Zählen von Kommata erfordert offenbar nur eine kleine Umstellung und das Erlernen des Autofahrens oder des Sprachverständnisses eine große Umstellung, die länger dauert. Wichtig ist, dass komplexere Sätze oder Verkehrssituationen, die sich nicht durch (unbewusste, automatische) Routinen bewältigen lassen, weiterhin die Beteiligung von System 2 erfordern. Auch komplexe Berechnungen, wie die Aufgabe \(13 \cdot 26\), die Sie oben gelöst haben, lassen sich offenbar nur mithilfe von System 2 lösen. Mit anderen Worten: Das Beachten und Verknüpfen mehrerer, neuer Informationen erfordert stets eine Fokussierung der Aufmerksamkeit, Bewusstsein und geistige Anstrengung. Die begrenzten Ressourcen für diese Anforderungen bedingen, dass das Denken wesentlich langsamer wird und dass die Menge der Informationen, die gleichzeitig beachtet und verarbeitet werden können, äußerst begrenzt ist.

Energieaufwand und geistige Anstrengung

Zur geistigen Anstrengung gehört ein erhöhter Energieaufwand, der mit der Abnahme der Glukosekonzentration im Gehirn in Zusammenhang steht. Und in der menschlichen Evolution galt es, mit der zur Verfügung stehenden Energie klug zu haushalten, was in der Regel bedeutet, sie nur sparsam einzusetzen. Wohl jeder kennt den „inneren Schweinehund“, der einen davor bewahrt, sich geistig (oder körperlich) anzustrengen, wenn man genauso gut eine weniger energieaufwendige Alternative wie das Sehen eines Films wählen könnte. Geistige Anstrengung ist meistens unangenehm. Wie oben beschrieben, erfordern die Operationen von System 1, also die Denkprozesse, die unbewusst, automatisch und mühelos ablaufen, sehr viel weniger geistige Anstrengung als die bewussten Denkprozesse von System 2; gleichzeitig liefern uns die Operationen von System 1 aber trotzdem häufig einen zutreffenden Eindruck zur Beurteilung einer Situation und System 2 ist froh, wenn es diesen Eindruck abnicken kann statt die Mühe aufzunehmen, alle relevanten Faktoren langsam und bewusst zu durchdenken. So beurteilen wir viele Situationen unbewusst, schnell, energieeffizient und in manchen Fällen systematisch falsch, weil die unbewussten Funktionsmechanismen von System 1 nicht zur Beurteilung dieser Situation geeignet sind.

Betrachten Sie die folgende Aufgabe, die Kahneman in seinem Buch „Schnelles Denken, langsames Denken“ auf Seite 61 beschreibt, und antworten Sie so schnell wie möglich mit der ersten Antwort, die Ihnen einfällt:

„Ein Schläger und ein Ball kosten 1,10 Dollar.
Der Schläger kostet einen Dollar mehr als der Ball.
Wie viel kostet der Ball?“

Während System 1 bei manchen Aufgaben, wie \(13 \cdot 26\), keine Intuitionen bereit stellt und daher die Hilfe von System 2 anfordert, bietet es in anderen Situationen trügerische, falsche Intuitionen an. In diesem Fall antworteten die meisten Studenten in der entsprechenden Studie mit der intuitiven Antwort „10 cent“, obwohl schon ein wenig geistige Anstrengung gereicht hätte, um diese Antwort als falsch zu entlarven und auf die richtige Antwort „5 cent“ zu kommen. Geistige Anstrengung ist oft unangenehm und wird häufig vermieden, wenn mühelos und schnell erhaltene Intuitionen bereitstehen. Diese beruhen aber offenbar nicht auf mathematischer Logik, sondern auf den Funktionsmechanismen von System 1, die sich aus unserer Evolution und unserer persönlichen Lebenserfahrung ergeben.

Das assoziative Gedächtnis und das Streben nach assoziativer Kohärenz

Kahneman stellt in seinem Buch viele der Funktionsmechanismen von System 1 vor, von denen ich hier nur einen stark verkürzten Abriss gegeben habe. Im Fall des Schläger-Ball-Problems mag die Organisation des Gedächtnisses, auf das System 1 Zugriff hat, schon eine Erklärung liefern. Im Gedächtnis sind nach Kahneman (sehr weit gefasste) Vorstellungen verschiedener Art repräsentiert und miteinander verbunden oder assoziiert, wenn sie mit nur kurzen zeitlichen Abständen zusammen auftraten. Wenn nun durch eine Aufgabe oder einen anderen Reiz eine Vorstellung im Gedächtnis aktiviert wird, werden auch weitere Vorstellungen (etwas schwächer) aktiviert, die damit assoziiert sind.

Ich stelle mir eine mögliche Erklärung für die „10 cent“-Antwort so vor: Beim Lesen des Schläger-Ball-Problems werden im ersten Satz vermutlich automatisch die Assoziationen „Schläger – Ball – 1 Dollar – 10 cent“ geknüpft, denn man liest „ein Dollar und 10 (cent)“. Im zweiten Satz wird dann die Assoziation „Schläger – 1 Dollar“ geknüpft, womit für den Ball automatisch die Assoziation zu „10 cent“ übrig bleibt. Diese Hypothese ließe sich überprüfen, indem man das Schläger-Ball-Problem noch einmal stellt und nun behauptet, dass der Schläger 80 cent mehr als der Ball koste. Nach meiner Hypothese müsste der Anteil, der nun behauptet, der Ball koste 30 cent, deutlich geringer sein.

Unabhängig davon, ob meine Hypothese richtig ist oder nicht, ermöglicht mir die Vorstellung des assoziativen Gedächtnisses den Übergang zu einer weiteren Eigenschaft von System 1, die Kahneman in seinem Buch darstellt: Es neigt dazu, Aussagen zu bestätigen und Zweifel zu unterdrücken. Stellen Sie sich folgende Situation vor: „Lisa ging zur Bank“. Diese Aussage löst Assoziationen bei Ihnen aus, die Lisa mit einer Bank in Verbindung bringen. Wenn Sie vor kurzer Zeit mit Geld zu tun hatten, dann werden Sie sich vorgestellt haben, wie Lisa in ein Gebäude ging und Geld abholte; wenn Sie hingegen kürzlich in einem Park waren, werden Sie vielleicht daran gedacht haben, wie Lisa in einem Park spazieren ging und sich dort auf eine Bank setzte. Sie werden jedoch nicht an beides gleichzeitig gedacht haben und sofern Sie Ihre Interpretation nicht bewusst hinterfragten, wird sie Ihnen eindeutig vorgekommen sein. Die assoziative Aktivierung im Gedächtnis erzeugt ein kohärentes Muster von Vorstellungen und der Grad der Kohärenz bestimmt meistens, wie sehr wir von diesem Muster von Vorstellungen überzeugt sind. Und zu dem Satz „Lisa ging zur Bank“ lässt sich leicht ein kohärentes Vorstellungsmuster aufbauen, solange keine widersprechende Interpretation zur Sprache kommt. Dies sind Operationen von System 1; sie laufen schnell, mühelos und größtenteils unbewusst ab. Bewusst wird uns ein Eindruck davon, ob die Aussage stimmt oder nicht. Zweifel an diesem Eindruck und das Suchen nach Gegenbeispielen, die die Aussage widerlegen könnten, sind hingegen Aufgaben von System 2; sie laufen eher langsam und bewusst ab und sie kosten geistige Anstrengung. Deshalb wird System 2 gewöhnlich erst dann aktiviert, wenn sich kein assoziativ kohärentes Muster einstellen will und die Auflösung der Widersprüche eine größere Anstrengung erfordert. Der Satz „Cäsar war ein großer römischer Politiker“ ruft andere Assoziationen hervor als der Satz „Cäsar war ein römischer Diktator“, wobei die Assoziationen die jeweiligen Aussagen bestätigen werden. Es fällt uns schwer, beide Aussagen zusammen zu akzeptieren, da sie ein inkohärentes Muster ergeben, in dem Cäsar gleichzeitig ein großer Politiker und ein Diktator ist. Wir streben stets nach assoziativer Kohärenz, auch wenn die Wirklichkeit diese vielleicht nicht immer hergibt.

Metakognition

Kommen wir zurück zur Mathematik. In zahlreichen Studien wurde belegt, dass Schüler, die höhere Werte für das Konstrukt „Metakognition“ erzielen, auch bessere Leistungen in Mathematik erbringen (siehe dazu einen Überblickartikel von Schneider und Artelt, 2010). Zur Metakognition zählt die Planung, Kontrolle und Reflexion der eigenen Gedanken und mit unserem Wissen über die zwei Systeme können wir den Befund zur Metakognition in einen größeren Rahmen einordnen. Offenbar ist das Konstrukt „Metakognition“ ein Teil des Konstruktes „System 2“. Die Planung bedeutet eine Verlangsamung des Denkens und das bewusste Festlegen einer Reihenfolge, in der über die anstehenden Aufgaben nachgedacht werden soll, Kontrolle bedeutet das Anzweifeln der eigenen Eindrücke und Überzeugungen und schließlich bedeutet Reflexion das Bewusstmachen der Vorgehensweise, der Schwierigkeiten und Weiteres. Das alles sind Operationen von System 2. Mit dieser Einordnung lässt sich behaupten, dass die Schüler mit höheren Werten bei der Metakognition mehr geistige Anstrengung investiert haben und dass sie häufiger ihr Denken verlangsamt und bewusst gemacht haben. Vermutlich aktivieren sie auch bei anderen Anforderungen, die nicht unter das Konstrukt Metakognition fallen, häufiger ihr System 2 und schaffen es dadurch besser, mehrere Informationen zu beachten und zu verknüpfen.

Die Schwierigkeit der Mathematik – eine Annäherung

Um den Artikel nicht zu lang werden zu lassen, möchte ich an dieser Stelle mit einer ersten Annäherung an die Frage „Warum ist Mathematik so schwierig?“ enden. Wir haben zwei verschiedene mathematische Aufgaben kennen gelernt; die erste Aufgabe, \(13 \cdot 26\), war ein rein innermathematisches Problem und uns wurde sofort klar, dass wir es intuitiv, also mithilfe von System 1, nicht lösen können. Das Problem ist in einer abstrakten symbolischen Darstellung repräsentiert, die System 1 nicht verarbeiten kann. Es kann Vorstellungen von 13 Äpfeln, 13 Birnen, 13 Bäumen usw. aktivieren, aber es hat nur eine sehr grobe Vorstellung von der abstrakten Anzahl oder Vielfachheit „13“. Dementsprechend fehlen uns unsere Intuitionen bei der Lösung von innermathematischen Aufgaben und wir müssen sie mit unseren begrenzten Ressourcen für System 2 lösen.

Kniffliger wird es bei Aufgaben, die einen außermathematischen Kontext haben, so wie das Schläger-Ball-Problem. Der Kontext der Aufgabe ermöglicht uns teilweise einen intuitiven Zugang zur Aufgabe, der uns verlockend mühelos erhaltene Antworten zur Lösung anbieten kann. Doch diese Intuitionen, die System 1 uns anbietet, beruhen nicht auf mathematischer Logik und sind daher häufig falsch. Gleichzeitig kann uns jedoch der Kontext eine konkretere Vorstellung von den Anforderungen der Aufgabe bieten und dadurch auch eine richtige Lösung fördern, indem System 1 Vorschläge für Lösungen bzw. Ansätze macht und System 2 diese überprüft und durch Argumente belegt oder widerlegt.

Wichtig ist in jedem Fall eine Aktivierung der begrenzten Ressourcen von System 2 und damit eine Verlangsamung des Denkens, das (oft unangenehme) Investieren geistiger Anstrengung und das Anzweifeln intuitiver Ahnungen. Dies ist zum Teil bereits durch die Studien zur Metakognition belegt. Im Gegensatz zu den meisten anderen Fächern, die auf Sprache beruhen, haben wir kaum einen intuitiven, mühelosen Zugang zu den Themen der Mathematik. Damit will ich nicht behaupten, dass in anderen Fächern keine geistigen Anstrengungen unternommen werden müssten oder unbelegte Ahnungen stets übernommen werden könnten. Ich behaupte, dass wir in Fächern, die auf Sprache basieren, viel besser von unseren Intuitionen unterstützt werden als in mathematikbasierten Fächern und dass das Anzweifeln der Intuitionen, die uns im Alltag so gut und zugleich mühelos führen, erst sehr mühsam erlernt werden muss.

Unbewusst gewonnene mathematische Erleuchtungen!?

Zum Abschluss möchte ich verdeutlichen, dass dieser Artikel ganz bestimmt keinen Abschluss darstellt. Neben vielen inhaltsspezifischen Aspekten, die man erläutern könnte, möchte ich einen Bericht des großen französischen Mathematikers Henri Poincaré erwähnen, in dem er schildert, dass er auf einer geologischen Expedition, die ihn seine mathematische Arbeit vergessen ließ, plötzlich einen genialen Einfall zu einem speziellen mathematischen Zusammenhang hatte. Später, als er genügend Zeit dazu hatte, verifizierte er das Ergebnis und überzeugte sich so von der Wahrheit seiner Ahnung (beschrieben in dem Buch „Denken. Wie das Gehirn Bewusstsein schafft“ von Stanislas Dehaene auf S. 116 ff.).

Poincarés Erlebnis ist ein Beispiel für eine plötzliche mathematische Erkenntnis, die offenbar weitgehend unbewusst erworben wurde (tatsächlich bedarf es für eine solche Einsicht zumindest eine intensive, bewusste Beschäftigung mit einem entsprechenden Problem, auch wenn diese vorerst ergebnislos bleibt). Das Verifizieren dieser Erkenntnis hingegen ist eine Aufgabe, die nur System 2 übernehmen kann. Aber wir sollten System 1 auf keinen Fall unterschätzen. Es verfügt über viel größere Ressourcen als System 2 und erzeugt damit den Großteil unserer Überzeugungen – häufig auch die, die wir für bewusst und rational durchdacht halten. System 1 bietet System 2 Eindrücke und Ahnungen an, die System 2 im Sinne eines energieeffizienten Arbeitens nur selten überprüft und oft übernimmt, sodass sie zu unseren (ggf. im Nachhinein rationalisierten) Überzeugungen und Entscheidungen werden. Unser Wissen über die Operationen der beiden Systeme geht zwar inzwischen weit über Mutmaßungen hinaus, aber sie sind immer noch lange nicht ganz verstanden. Und somit bleibt auch unklar, unter welchen Bedingungen System 1 doch in der Lage ist, mathematische Erkenntnisse zu erzeugen. Im nächsten Artikel werde ich allerdings einen Ansatz zu dieser Frage wagen.

Quellen

Dehaene, Stanislas (2014): Denken. Wie das Gehirn Bewusstsein schafft. 1. Auflage. Knaus-Verlag.

Kahneman, Daniel (2015): Schnelles Denken, langsames Denken. 14. Auflage. Pantheon-Ausgabe.

Schneider, Wolfgang und Cordula Artelt (2010): „Metacognition and mathematics education.“ In: ZDM Mathematics Education (42). S. 149 -161.

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